Addison Allen, Mein zauberhafter Garten, Goldmann Verlag, 8,95 €

Jeden Smiley-Mond träumte Claire von ihrer Kindheit. Sie versuchte immer, wach zu bleiben, wenn die Sterne blinkten und der Mond als schmale Silberscheibe herausfordernd auf die Welt herablächelte wie hübsche Frauen früher von Zigaretten- und Limonendrinkplakaten. Dann jätete Claire beim Licht der solarbetriebenen Weglampen und stutzte die Nachtblüher - Königin der Nacht und Mondwinde, Nachtjasmin und Ziertabak. Sie gehörten nicht zum Waverley-Erbe essbarer Pflanzen; Claire hatte sie für die schlaflosen Nächte gepflanzt, in denen sie unter Strom stand.
Sie träumte immer das Gleiche, von langen, schlangenähnlichen Straßen, davon, dass sie im Wagen schlief, während ihre Mutter in Bars Männer aufriss, dass sie Schmiere stand, wenn Mom Shampoo, Deo, Lippenstift und manchmal auch einen Schokoriegel für Claire stahl. Kurz bevor sie aufwachte, erschien jedes Mal ihre Schwester Sydney, umgeben von einem Lichtschein. Lorelei packte Sydney und rannte mit ihr zum Haus der Waverleys in Bascom. Claire kam nur mit, weil sie sich fest an ein Bein der Mutter klammerte.
Als sie an jenem Morgen im Garten aufwachte, schmeckte sie Reue. Stirnrunzelnd spuckte sie aus. Sie bedauerte, wie sie ihre Schwester als Kind behandelt hatte. Aber die sechs Jahre vor Sydneys Geburt waren voller Angst gewesen, davor, erwischt oder verletzt zu werden oder nicht genug Essen oder Benzin oder warme Kleidung für den Winter zu haben. Ihre Mutter hatte ihr immer geholfen, allerdings jedes Mal erst im letzten Moment. Am Ende wurden sie nie erwischt, Claire passierte nichts, und wenn der erste Nachtfrost die Färbung der Blätter einleitete, zauberte ihre Mutter blaue Fäustlinge mit weißen Schneeflocken darauf, rosafarbene Skiunterwäsche und eine Bommelmütze hervor. Das Leben auf Achse war in Ordnung gewesen für Claire, aber offenbar meinte Lorelei, Sydney verdiene etwas Besseres, mit Wurzeln geboren zu werden. Und das kleine, verängstigte Kind in Claire konnte ihr das nicht verzeihen.
Sie nahm Gartenschere und Kelle in die Hand, erhob sich steif und ging im Morgennebel in Richtung Schuppen. Plötzlich blieb sie stehen und sah sich um. Im Garten war es still und feucht, nur der eigensinnige Apfelbaum am anderen Ende zitterte ein wenig, als träumte er. Generationen von Waverleys hatten diesen Garten versorgt. Ihre Geschichte und ihre Zukunft steckten in seiner Erde. Etwas würde geschehen, etwas, das er ihr noch nicht verraten wollte. Sie würde die Augen offen halten müssen.
Im Schuppen wischte sie sorgfältig den Morgentau von den alten Geräten und hängte sie an ihren Platz an der Wand. Dann schloss und versperrte sie das schwere Tor zum Garten und überquerte die Zufahrt hinter dem pompösen Haus im Queen-Anne-Stil, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
Claire betrat es durch die Hintertür und blieb im Wintergarten stehen, den sie in einen Trockenraum für Kräuter und Blumen umgewandelt hatte. Hier duftete es nach Lavendel und Pfefferminze, wie aus einer Weihnachtserinnerung, die nicht ihr gehörte. Sie zog das schmutzige weiße Nachthemd aus und ging nackt ins Haus. Vor ihr lag ein anstrengender Tag. Sie musste das Catering für eine Dinnerparty vorbereiten, und außerdem war es der letzte Dienstag im Mai, weswegen sie Flieder-, Minz- und Rosenblütenmarmelade sowie Brunnenkresse- und Schnittlauchblütenessig zum Farmermarkt und zum Delikatessenladen bringen würde, wo die Studenten vom Orion College sich nach den Kursen trafen.
Als Claire sich kämmte, klopfte es an der Tür. Sie schlüpfte in ein weißes Sommerkleid und tappte barfuß nach unten. Vor der Schwelle stand Evanelle.
Evanelle Franklin sah mit ihren neunundsiebzig Jahren aus wie hundertzwanzig, schaffte aber immer noch fünfmal die Woche die Anderthalb-Kilometer-Runde auf der Aschenbahn des College. Evanelle war entfernt mit Claire verwandt, eine Cousine zweiten, dritten oder auch vierzehnten Grades, und die einzige andere Waverley, die noch in Bascom lebte. Claire mochte sie, weil sie sich nach einer Familie sehnte, nachdem Sydney mit achtzehn verschwunden und ihre Großmutter im selben Jahr gestorben war.
In Claires Kindheit kam Evanelle oft Stunden, bevor sie hinfiel und sich das Knie aufschlug, vorbei, um ein Pflaster daraufzukleben, oder sie brachte ihr und Sydney ein paar Münzen, ehe der Eismann vorbeifuhr, oder eine Taschenlampe, schon zwei Wochen bevor der Blitz in einen Baum am anderen Ende der Straße einschlug und das ganze Viertel eine Nacht lang ohne Strom war. Wenn Evanelle einem etwas gab, brauchte man es früher oder später, nur der Katzenkorb, den sie Claire fünf Jahre zuvor geschenkt hatte, wartete noch auf seine Bestimmung. Die meisten Leute im Ort behandelten Evanelle freundlich, aber ein wenig amüsiert, und nicht einmal sie selbst nahm sich allzu ernst. Aber Claire wusste, dass immer etwas dran war an Evanelles merkwürdigen Gaben.
»Heute siehst du richtig italienisch aus mit deinen dunklen Haaren und dem Sophia-Loren-Kleid. Dein Bild würde sich gut machen auf einer Flasche Olivenöl«, begrüßte Evanelle Claire. Sie selbst trug einen grünen Velours-Jogginganzug, und über der Schulter hatte sie eine große Tasche voll mit Münzen und Briefmarken und Eieruhren und Seife, alles Dinge, die sie irgendjemandem irgendwann vielleicht einmal schenken würde.
»Ich wollt mir grad einen Kaffee machen«, sagte Claire und trat beiseite, um sie einzulassen. »Komm doch rein.«
»Warum nicht?« Evanelle folgte Claire in die Küche, wo sie sich an den Tisch setzte, während diese den Kaffee kochte. »Weißt du, was ich hasse?«
Claire sah sie an. »Was?«
»Den Sommer.«
Claire musste lachen. Sie war gern in Evanelles Gesellschaft und hatte jahrelang versucht, die alte Dame dazu zu bewegen, dass sie zu ihr zog, damit sie sich um sie kümmern konnte. »Warum um Himmels willen hasst du denn den Sommer? Der ist doch wunderbar: frische Luft, offene Fenster und Tomaten frisch vom Strauch und warm von der Sonne auf den Teller.«
»Ich hasse den Sommer, weil dann die meisten Collegekids wegfahren und ich auf der Aschenbahn nicht mehr so viele knackige Ärsche von Joggern zu sehen kriege.«
»Du hast wirklich eine schmutzige Phantasie, Evanelle.«
»Ich red ja bloß.«
Claire stellte Evanelle eine Tasse Kaffee hin. Evanelle sah misstrauisch hinein. »Du hast nichts reingetan, oder?«
»Das weißt du doch.«
»Deine Seite der Waverleys gibt immer überall irgendwas rein. Lorbeerblätter ins Brot, Zimt in den Kaffee. Ich mag die Sachen so, wie sie sind, lieber.

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