Die Skorpionin

Leseprobe

Die Skorpionin - Dinner for two

Es überraschte ihn nicht wirklich, als er das Schloss erreichte und kein Wächter in grellgelber Weste ihm den Weg zum überfüllten Gästeparkplatz wies. Unter ihren Schneehauben beleuchteten Laternen die Auffahrt. Das große Eisentor stand einladend offen. Keine Reifenspuren entweihten den jungfräulich wirkenden Schnee. Rechts und links der schweren Eingangstür oberhalb der Freitreppe brannten zwei Lampen. Er stoppte den Wagen, griff nach dem Geschenk und verbarg es unter seinem Mantel, den er vom Rücksitz holte.

Das versprach ja eine ganz besondere Hochzeit zu werden. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, er könnte sich im Datum geirrt haben, aber das war völlig ausgeschlossen. Noch am Morgen hatte ihn die Barlow angerufen und sich versichern lassen, dass er käme.

Schnaufend tappte er vorsichtig die verschneite Treppe hinauf. Er war noch nicht ganz oben, da wurde die Tür geöffnet und Anna-Sophia Barlow trat lächelnd heraus.

Die Frau war eine Offenbarung. Das kleine Schwarze, das sie anhatte, trug seinen Namen völlig zu recht. Kein kaschierendes Nylon behinderte den Blick auf die trotz der Jahreszeit leicht gebräunten makellosen Beine. Keine Besenreißer oder Pigmentflecken beeinträchtigten die Ebenmäßigkeit der perfekt proportionierten Schenkel. Die Füße in den schwindelerregend hohen Pumps zeigten keinerlei Anzeichen von Überanstrengung. Klar, sie war einmal eines der gefragtesten Models des Planeten gewesen. Doch mittlerweile musste sie bereits Ende vierzig sein. Kein Wunder, dass es so viele hässliche Leute gab, wenn die Natur die Schönheit so undemokratisch über einen einzigen Menschen ausschüttete.

Sie hielt ihm die Wangen hin und er roch ihren natürlichen Duft, der den dezenten Chanel-Hauch souverän überlagerte. Schwer atmend folgte er ihr in die pompöse Halle. Sie nahm ihm den Mantel ab, legte ihn über die Lehne einer Ottomane und empfing mit wissendem Lächeln das quadratische Geschenk. Auf einem Beistelltisch in der Nähe des Durchgangs zum Salon stand eine Flasche 1990er Dom Ruinart Rosé in einem Kühler sowie zwei Gläser. Sie schenkte ein und reichte ihm ein Glas.

„Auf das glückliche Brautpaar“, sagte Glimm, nachdem er eine ganze Meute Frösche in seinem Hals in die Flucht geräuspert hatte, und erntete ein helles Lachen wie von einem fröhlichen Kind.
„Auf uns, Herr Anwalt“, gurrte sie, „Auf uns beide …“
„Wo ist eigentlich Ihr Mann?“
Sie gickelte wie ein Teenager. „Gernot werden wir später sehen. Aber lassen Sie uns in den Salon gehen, das Essen wartet schon.“

Den Kopf voller widersprüchlicher Gedanken trottete Glimm hinter ihr her wie ein guter Hund.
Im sanften Licht des gedimmten Kronleuchters und zahlloser Kerzen fiel sein Blick auf eine prächtig gedeckte Tafel. Schimmerndes Porzellan, blitzendes Besteck und auf einer großen Anrichte leise zischende Rechauds, aus denen verführerische Düfte strömten.

„Ich habe mir erlaubt, einen kleinen Imbiss vorzubereiten. Was man eben so schafft, wenn das Personal nicht da ist“, bemerkte sie und Glimm erkannte mit gerunzelter Stirn, dass der riesige Mahagonitisch lediglich für zwei Personen eingedeckt war. Was war hier los? Was sollte das Gerede von einer Hochzeitsparty? Wo waren die Gäste? Das Personal? Wo, zum Teufel, steckte der Bräutigam? Das Arschloch. Den letzten Gedanken verdrängte er rasch wieder, als hätte er Angst, die Barlow könne ihn hören.

„Sie haben selbst gekocht?“ Es klang wohl ein wenig zu überrascht, denn die Stimme der Barlow enthielt eine winzige Prise Chili.
„Wenn es Ihnen nicht schmeckt, lasse ich gerne etwas vom Chinesen kommen.“ Das entwaffnende Lächeln entschärfte die Situation sofort wieder. „Nehmen Sie Platz, wundern Sie sich über nichts und genießen Sie den Abend, lieber Freund. Ich bin sofort wieder da.“
Aber hallo! Lieber Freund! Bisher hatte sie ihn entweder mit Namen oder leicht spöttisch mit „Herr Anwalt“ angesprochen. Das versprach ja ein interessanter Abend zu werden.
Nach wenigen Augenblicken rauschte sie mit einem Tablett herein und stellte jeweils ein kleines Gedeck an ihre Plätze.

„Voilá, Thunfisch-Tatar auf Guacamole, dazu ein 2005er Dezaley La Medinette. Das wird mich wohl davor bewahren, mich vor einem Weinkenner wie Ihnen zu blamieren.“ Das Lächeln verhieß sämtliche Sinnesfreuden aus Tausendundeiner Nacht. Glimm holte tief Luft. Die Barlow hätte ihm Leitungswasser kredenzen können, heute hätte er es noch nicht einmal bemerkt. Verzückt registrierte Glimm das mit Wachteleiern und Paprikawürfeln farbenfroh angerichtete Arrangement. Die Barlow, eine Küchenfee! Wer hätte das gedacht?

„Auf diesen Abend“, das Lächeln der Barlow war rätselhaft wie das der Mona Lisa, als sie ihr Glas erhob. Glimm neigte den Kopf und prostete ihr stumm zu. Es fiel ihm nichts mehr ein. Ihm, dem berühmten Strafverteidiger, fehlten die Worte. Er beschloss zu kapitulieren, verbannte die Grübelei aus seinem Kopf, konzentrierte sich auf den ausgezeichneten Schweizer Wein und harrte der Köstlichkeiten, welche seine Gastgeberin zweifellos noch auftischen würde. Die Batterie kostspieliger Kristallgläser und das Sortiment schimmernden Bestecks verhießen dem Gourmet höchste kulinarische Wonnen. Zum Teufel mit Marks …

Der nachfolgende Gang stand der Vorspeise in nichts nach. Pochiertes Kalbsfilet mit Frühlingsgemüse und Kräutersauce. Begleitet von einem 2004er Pinot Noir, Palliser Estate, für den allein Glimm die Anfahrt durch Eis und Schnee auf sich genommen hätte. Zwischen dem Gemüse lugte grüner und weißer Spargel hervor, der nicht aussah, als käme er aus einer Konservendose. Auf seine Frage neigte die Barlow anerkennend den Kopf und erwähnte beiläufig, dass die für die Jahreszeit ungewöhnliche Delikatesse im klimatisierten Food-Container an Bord eines FedEx-Frachters in der vergangenen Nacht auf dem Frankfurter Flughafen gelandet war.

„Aus Neuseeland, genau wie der Wein, aber der lagert schon etwas länger in meinem Keller“, Anna-Sophia Barlow genoss sein kaum verhohlenes Staunen. Die Frau war ein Snob. Absolut! Gab es eigentlich ein weibliches Pendant zu Snob? Egal, der Abend begann gerade so richtig Spaß zu machen. Was kam wohl als Nächstes?

Ein Täubchen kam. Auf Blattspinat mit Pinienkernen. Ein Augenschmaus in Altrosa und Grün. Mit den eleganten Bewegungen einer geübten Sommeliere kredenzte die Gastgeberin dazu einen 2002er Generation Dix-Neuf Sancerre rouge aus dem Tal der Loire. Glimm schmolz dahin. Sollte dies das Letzte sein, was er in diesem Leben genoss, so wäre es ihm auch egal. Satt und leicht betüdelt würde er lachend zur Hölle fahren. Da, wo die alten Kumpels sind.

Zwischenzeitlich hatte die Barlow ihr Geschenk ausgepackt und die schwarze Scheibe auf den massiven Teller eines Plattenspielers gelegt, der aussah, als bekäme man dafür schon einen ordentlichen Mittelklassewagen. Keine digitale Technik war in der Lage, die Körperlichkeit von Hancocks Musik gemeinsam mit dem leisen Knistern zu imitieren, das die schwarze Scheibe ungefiltert von sich gab. Authentizität in Reinkultur. Man schwelgte. Das Essen, der Wein, die Musik. Vergessen der eigentliche Anlass, die dubiose Hochzeitsfeier. Vergessen die Welt weit jenseits dieses Kokons aus massivem Stein, belebt vom warmen Licht der Kerzen und der duftenden Wärme gut abgelagerten Buchenholzes. Ein Paradies.

Glimm und Anna-Sophia Barlow ergingen sich in Fachsimpeleien über Jazz, Mode und Wein und vergaßen darüber beinahe die Zeit. Mit gespieltem Erschrecken erhob sie sich und eilte zur Anrichte, um den nächsten Gang zu servieren.

Der Anwalt lockerte seine Fliege und öffnete den oberen Knopf seines Hemdes. Seine Gefühle für diese erstaunliche Frau brachen sich nun Bahn. Er begehrte sie. Schon seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war die Frau, die er schon sein ganzes Leben lang gesucht hatte. Diese obskure Hochzeitsgeschichte würde sich wohl irgendwann aufklären. Im Augenblick interessierte ihn das nicht besonders. Träge vom Essen und beschwingt vom Wein, konnte er es kaum erwarten, dass sie wieder zurückkam.

Neuer Gang, neuer Wein. Die köstlich duftende Feigen-Ziegenkäse-Tarte wurde von einem 2001er Sauvignon blanc aus Kalifornien begleitet. Das Etikett zeigte einen mexikanisch anmutenden Torbogen mit einer Glocke und in rebenartig verschlungenen Lettern „Anna‘s Vineyard, Oakville“.

Die Barlow bemerkte den interessierten Blick ihres Gastes und erklärte mit kaum verhohlenem Stolz: „Der Ziegenkäse und der Wein sind Eigenproduktionen. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen später die Aufzeichnung einer Fernsehdokumentation. Der örtliche Sender CalNBC hat anlässlich der Prämiierung einiger meiner Weine eine halbstündige Sendung über Anna‘s Vineyard produziert. Der Ziege dürfen Sie natürlich auch den Bart kraulen, wenn Sie möchten.“

Ihr Lächeln hatte auf einmal wieder diesen diabolischen Touch, aber das konnte auch an seinem mittlerweile etwas eingeschränkten Urteilsvermögen liegen. Tarte und Wein ließen erwartungsgemäß keine Wünsche offen und verwöhnten Zunge und Gaumen.

Nachdem sie fast eine halbe Stunde lang über das Weingut der Barlow gesprochen hatten, entschuldigte sich die Gastgeberin, da sie das Dessert noch anrichten müsse. Glimm nutzte die Pause, erhob sich und streckte seinen massigen Körper. Neugierig trat er zu einer fast schwarz nachgedunkelten Kredenz aus der Zeit Kaiser Wilhelms II. Die Oberfläche wurde von einer seidenen Decke geschützt, auf der Rauchutensilien verteilt waren. Unter anderem ein schweres silbernes Feuerzeug und ein dazu passendes Zigarettenetui. Eine fein gearbeitete, flache Kiste aus poliertem Holz zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

„Schau an, schau an …“, murmelte er und klappte mit spitzen Fingern den Deckel hoch. Er schnalzte mit der Zunge, als er die Reihen perfekt gerollter Cohibas erblickte. Esplendidas in kapitalem Churchill-Maß von einhundertachtundsiebzig Zentimeter. Er konnte nicht anders. Er musste diese Straftat jetzt einfach begehen. Zwei der fast dreißig Euro teuren Torpedos versanken in der Innentasche seines Smokings, eine behielt er zwischen den Fingern und roch mit geschlossenen Augen daran.

Voller Vorfreude zog er den Vorhang vor der Terrassentür zur Seite, zwinkerte seinem Spiegelbild in den dunklen Glasscheiben zu und öffnete den rechten Flügel. Eisige Nachtluft strömte herein und nahm ihm für einen Moment fast den Atem. Rasch trat er hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Er ging bis zur Balustrade aus Sandstein, nahm einige tiefe Atemzüge, um den Schwindel zu verscheuchen, der ihn leicht schwanken ließ. Dann biss er die Spitze der Zigarre ab, ein Verfahren, dass auf Cuba durchaus üblich ist und das affektierte Ritual mit Taschenguillotinen der europäischen Raucher ad absurdum führt. Sorgfältig entzündete er das Ende, drehte die Zigarre in der Flamme und blies anschließend in die Glut, um einen gleichmäßigen Abbrand zu entfachen. Er nahm den ersten Zug, badete Zunge und Gaumen in aromatischem Rauch und blies ihn fast wehmütig in die Nacht.

Es schneite nicht mehr. Vereinzelt blinkten Sterne durch die aufgerissene Wolkendecke. Kein Mond war zu sehen. Nach kurzer Zeit gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er konnte die gewellte Linie der umliegenden Berge erkennen, die sich gegen den nur eine Nuance helleren Himmel abhoben.

Stephan Glimm fühlte eine in den letzten Jahren immer seltener verspürte Ruhe in sich einkehren. Das hier war ein magischer Ort, die Atmosphäre unwirklich, fast surreal. Er ließ zu, dass seine Gedanken verschwammen, atmete den Duft der Cohiba und ließ seine Augen wandern. Die Büsche und Bäume im Park trugen dicke weiße Hauben, die Putten und Statuen groteske Mützen aus Schnee. Weiter hinten, fast am Ende des Grundstückes, ragte ein merkwürdiges Gestell in die Höhe.

„Ich liebe diesen Duft“, unhörbar war Anna-Sophia hinter ihn getreten und legte die Arme um ihn. Fast hätte er sich am Rauch verschluckt, doch es gelang ihm, seine Atemwege mit einem kräftigen Räuspern wieder klar zu bekommen.
„Ich bin ein Dieb“, bekannte er freimütig. „Ich denke, ich brauche jetzt einen guten Anwalt, Frau Barlow.“
„Anna“, hauchte sie in sein Ohr. „Nenn mich einfach Anna, Herr Anwalt.“ Glimm roch Wein und etwas Stärkeres in ihrem Atem. Die Dame war wohl etwas angeschickert. Er drehte sich um, ihr Körper drängte sich an ihn, er spürte, dass sie unter dem dünnen Seidenkleid nichts anhatte. Rasch stellte sie ein großes Weinglas auf dem Geländer ab.

„Gib mir einen Zug“, forderte sie mit Blick auf die Zigarre in seiner rechten Hand.
„Dein Wunsch ist mir Befehl“, erwiderte er und sog an der Cohiba. Ihre Münder trafen sich fast auf gleicher Höhe. Die Barlow war auch ohne ihre High Heels eine große Frau. Ihre Zunge spielte mit der seinen, mit einer Mischung aus Leidenschaft und vorsichtigem Forschen. Ihre Wangen glühten, als sie sich zurückzog, um wieder zu Atem zu kommen. Die Cohiba war längst ausgegangen, lag im Schnee wie irgendeine weggeworfene Rentner-Fehlfarbe.

Glimm schaute ihr in die Augen. Das wenige, vom Schnee reflektierte Zwielicht ließ ihr Gesicht kalkweiß erscheinen. Ihr Mund verzog sich zu einem triumphierenden Lächeln, die Augen leuchteten, doch mit einem merkwürdig kalten Feuer, das den Anwalt zutiefst irritierte.
„Wo ist Marks?“, stieß er fast keuchend hervor. Etwas grummelte in seinen Eingeweiden. Etwas, das weder mit dem Essen noch mit den konsumierten Getränken zu tun hatte. Etwas Dunkles, Unheimliches …

„Du willst wissen, wo der Bräutigam ist?“ Sie machte ein Gesicht wie ein ungeduldiges Kind, das gleich mit einer großen Überraschung herausplatzen würde. „Er ist hier. Ganz in der Nähe.“
In ihrer Hand befand sich plötzlich eine kleine Funkfernbedienung. Sie drückte eine Taste und überall im Park leuchteten malerisch verschneite Laternen auf. Ihr Licht verzauberte die Nacht, die Pflanzen, Säulen und Figuren warfen bizarre Schatten in den Neuschnee.

„Dort, bei den Zypressen“, sie deutete in die Richtung der beiden seltsamen Pfosten. Etwas Unförmiges hing dazwischen, nur schemenhaft zu erkennen, verwischt vom Schatten der Bäume und dem diffusen Licht der kleinen Laternen.

Der Wein, das schwache Licht. Stephan Glimm wusste nicht, was er da eigentlich sah. Er kniff die Augen zu schma­len Schlitzen zusammen, doch das angestrengte Starren ließ lediglich seine Augen tränen.
„Oh, ich glaube, ich habe mich vertan!" Die Stimme der Barlow hatte den belustigten Tonfall einer Frau, die versehentlich ein unpassendes Weinglas gefüllt hatte. „Das hier ist der richtige Knopf.“

Grelles Flutlicht riss den Garten aus der Nacht. Jede Tannennadel, jede Fuge im Mauerwerk, jede einzelne Schneeflocke war überdeutlich wie auf einem hochauflösenden Monitor zu erkennen. Das schemenhafte Gebilde zwischen den Pfosten wurde zu einem menschlichen Körper.
Ein ersticktes Keuchen kam aus dem Mund des Anwalts. Schwer stützte er sich auf die Sandsteinbalustrade. Er spürte weder die Kälte noch die Nässe des darauf liegenden Schnees. Seine Augen hingen wie gebannt an dem bizarren Anblick …

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